Ich war letztens an der Uni (ja, stellt euch vor ein Student geht in die Uni – crazy oder?) und hab da ein Mädchen gesehen. Und dieses Mädchen war ohne Zweifel magersüchtig.
Kann sie nicht auch einfach nur von Natur aus schlank gewesen sein? Nein, denn das entscheidende Merkmal, ob jemand dünn oder tatsächlich magersüchtig ist, sieht man meist (nicht immer!) im Gesicht. Das Gesicht dieses Mädchens war blass, eingefallen und ausdruckslos. Ihr stand der Tod ins Gesicht geschrieben. Ich habe auch eine sehr schlanke Freundin, bei der ich mir auch denke, dass sie von Treffen zu Treffen schmaler wird, aber ihr Gesicht strahlt Leben aus. Außerdem isst sie genug. Ich war schon mehrmals mit ihr Burger essen.
Auf jeden Fall hat diese Begegnung gemischte Gefühle bei mir ausgelöst. Ich war auf einmal so unendlich traurig, dass sich dieses Mädchen mit etwas so teuflischem wie einer Essstörung quälen muss. Und zugleich war ich auch so wütend. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt und ihr klargemacht, dass sie gegen diesen Teufel kämpfen muss, auch wenn sie das gerade nicht will. Ich weiß natürlich als ehemalige Magersüchtige am besten, dass hingehen und durchschütteln null therapeutischen Wert hat und nur das Gegenteil bewirkt.
Als ich dann aber darüber nachgedacht habe, ist mir klargeworden, dass meine Wut gar nicht dem Mädchen galt, sondern der Krankheit selbst. Einfach die Tatsache, dass es eine solche Scheiß-Krankheit gibt, die Leben zerstört und sogar beendet, bringt mich auf 180. Ich meine, warum muss es so etwas geben? (Ich weiß schon, dass man das bei jeder Krankheit sagen könnte, aber ich bin halt in diesem Bereich sehr sensibel.)
Was auch noch GANZ wichtig ist: Essstörungen sieht man NICHT! Zumindest die allerwenigsten. Ich frage mich manchmal in der U-Bahn (wo sonst kann man besser nachdenken), wie viele Leute ich heute schon getroffen haben, die Probleme mit dem Essen haben oder gar an einer Essstörung leiden. Ich denke, dass ich erschrocken wäre, wüsste ich wie viele es sind.
Aber wir leben in einer Scheinwelt. Die Oberfläche ist makellos. Doch darunter verbirgt sich bei so vielen ein Sturm, der bei manchen die Form einer Essstörung angenommen hat.
Hab übrigens ein neues Video zum Thema soziale Ängste hochgeladen: Soziale Phobie – 5 schwierige Alltagssituationen / Julia Lebenswelt
Hallo Julia,
obwohl uns beiden unzählige Kilometer trennen und ich nicht zur Uni gehe, haben wir beide die gleiche Auffassung zu diesem Thema.
Essstörungen sind so heimlich, dass sie offen sichtbar sind und dennoch nicht bemerkt werden. Noch immer ist die Scham so groß und das Tabu scheinbar unüberwindbar. Sind Essstörungen das Produkt einer optimierten Überflussgesellschaft? Alles muss schneller, jünger, einfacher, höher, weiter, entwickelter und was weiß ich nicht alles sein, aber die Seele kommt schlicht und ergreifend nicht hinterher. Probleme werden immer größer und perfider, aber warum nicht auch die dazugehörigen Lösungen?
Auch ich habe den Drang, Essgestörte so lange zu schütteln, bis die Essstörung von der Person abfällt. Aber wie du schreibst, es bringt nichts. Uns bleibt nur, die Essstörung weiterhin offensiv zu thematisieren und den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. Noch wird uns nicht geglaubt, aber die Zeit wird kommen – dann schreien alle: „Ach, hätten wir nur …!“
Essstörungen sind nicht zu verhindern. Deshalb ist es zwingend notwendig, das positive Körpergefühl der Menschen, vor allem der heranwachsenden Generation, zu stärken. Sich selbst bewusst zu sein, das ist ein langfristiges Ziel.
Danke für deine klaren Worte. Das Video schaue ich mir gern an.
Viele Grüße
Michaela
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Das sind sehr wichtige Worte, liebe Michaela! ❤ Ich wünsche mir, dass das noch viel mehr Leute lesen und zuhören!
Liebe Grüße, Julia
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Ich danke dir. 🙂
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Ich stimme dir absolut zu! Essstörungen sind vor allem deshalb so gefährlich, weil man sie nicht sieht. Viele haben kein Problem damit, sie sehr gut zu verstecken, deshalb ist es unendlich wichtig, immer darüber zu reden!! Toll geschrieben!
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Vielen lieben Dank! ❤ Das motiviert mich sehr weiterzumachen!
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schöner text. nachdenklich. hab dazu bei mir auch einen blogbeitrag online… die wut ist so nachvollziehbar…
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Vielen lieben Dank! Es tut immer gut verstanden zu werden. Ich schau gerne mal bei dir vorbei :).
Alles Liebe, Julia ❤
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Ich habe nie unter einer Essstörung gelitten. Und es tut mir wirklich weh, wenn ich höre, wie viele ein Problem mit Essen haben. Wie viele generell psychische Probleme haben und lange nicht darüber reden konnten. Deswegen finde ich es ganz toll, dass du diese Themen hier aufgreifst! Wie du schon meintest, man sieht den Leuten nicht an, was in ihnen vorgeht. Also ist es wichtig, dass man sich öffnet und das Gespräch für diese Themen möglich macht.
Liebste Grüße,
Alina von Selfboost
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Ich danke dir für deine lieben Worte, Alina! ❤ So etwas zu lesen motiviert mich sehr weiterzumachen. 🙂
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Es gibt auch ein Recht auf Selbstschädigung. Außerdem beruhen Essstörungen je nachdem im Einzelfall gerade darauf, dass jemand übergriffigen Menschen bzw. Übergriffen ausgesetzt gewesen ist und in seiner Autonomie behindert und eingeschränkt wurde. Deshalb finde ich es sehr befremdlich, wenn jemand solche Gedanken hat, dass er fremde Menschen schütteln möchte, um ihnen eine vermeintliche Einsicht aufzudrängen.
Und nicht jeder, der sehr schlank ist, blass und ein „eingefallenes Gesicht“ oder einen „unglücklichen Blick“ hat, leidet an einer Essstörung. Solche Ferndiagnosen liebe ich ja … . Besonders, wenn aufgrund dieser Ferndiagnose (Projektion?) Wünsche entstehen, denjenigen zu schütteln und „ihm zu helfen“.
Mit solchen Mitmenschen braucht man keine Feinde mehr. Helfen tun die eher sich selbst mit derlei Wünschen, denn sie sind es, die ein Problem haben, das sie am anderen heilen wollen. Selbst wenn der andere tatsächlich seinerseits ein eigenes (Ess)Problem haben sollte.
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Danke für deine Meinung, Judith! Ich verstehe deine Argumente und möchte kurz drauf eingehen, um meinen Standpunkt klarer zu machen :
Offiziell gesehen gibt es kein Recht auf Selbstschädigung. Rechtlich ist es, neben Fremdgefährdung, nur ab einem gewissen Grad der Selbstschädigung möglich einem Menschen die Freiheit zu entziehen. Und das kann bei starker Magersucht durchaus zutreffen. Ich spreche aus Erfahrung.
Andererseits bin ich der Ansicht, dass jeder mit sich und seinem Körper machen darf, was er möchte. Somit ist es auch legitim sich bis zu einem gewissen Grad selbst zu schaden, bis das Rechtsystem greift. Ob ich das jetzt gut finde oder nicht ist ein anderes schwieriges Thema.
Ob eine Person tatsächlich magersüchtig ist oder nicht, kann man natürlich auf solchem Wege nie wissen. Trotzdem sah für mich die Person sehr krank aus (ohne sie dafür zu verurteilen), was in mir eine Art des Mitleids auslöst, egal weshalb sie so krank auf mich wirkt.
Mit der Projektion, würde ich sagen, hast du im weitesten Sinne recht. Ich werde durch meine Erfahrungen getriggert, wenn ich einen Menschen sehe, der für mich einen Spiegel meines früheren kranken Selbst darstellt. Das löst in mir vieles aus: Wut, dass so eine schreckliche Krankheit existiert; Trauer, dass unschuldige Menschen darunter leiden und noch andere Dinge. Dadurch würde ich mir so sehr wünschen, dass ich diese Erkrankung aus Menschen ‚herausschütteln‘ könnte.
Dass ich das natürlich nie machen würde ist klar. Das wäre absolut der falsche Weg. Das wichtigste ist hier, dass man seine Gedanken und Gefühle von seinem Verhalten trennt. Und um meine Gedanken nicht zu unterdrücken, gebe ich ihnen hier auf meinem Blog Raum. Dass man das nicht gut finden muss ist durchaus legitim.
Sorry für diesen langen Text. Wenn du ihn dir bis hierher durchgelesen hast: Danke!
Alles Liebe, Julia
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